Quelle: pixabay
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Wie viel können wir erwarten?

Aus flow (www.flow-magazin.deNr. 14 , S. 11 ff.

 

Egal ob es um den nächsten Urlaub, die Liebe oder Weihnachten geht, oft haben wir vorgefertigte Bilder und feste Vorstellungen im Kopf. Aber woher kommen eigentlich all diese Erwartungen? Und tun sie uns wirklich gut? Merle Wuttke hat sich darüber Gedanken gemacht.

 

Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich von einem Gefühl der Enttäuschung überrollt werde, obwohl bis zu diesem Moment meine Stimmung gut war. Dann bekomme ich so einen Stich im Herzen und weiß überhaupt nicht, warum ich plötzlich in ein schwarzes Loch falle. Gerade neulich erwischte es mich wieder. Ich kam aus dem Büro, war gerade zwanzig Minuten durch prasselnden Regen geradelt, ich fror und freute mich auf eine Tasse Tee. Zu Hause hörte ich meine Familie fröhlich beim Abendbrot sitzen. Klatschnass ging ich zu ihnen, doch Mann und Kinder hatten nur ein knappes Hallo für mich übrig, und die Küche war ein Saustall. Da war es wieder, das schwarze Loch, wortlos verschwand ich im Badezimmer.

 

Erwarte ich zu viel? Das Falsche? Gut, ich hatte mir das Nach-Hause-Kommen anders vorgestellt. Aber muss ich deshalb maßlos enttäuscht reagieren und so ärgerlich werden? Ich saß im Bad und fühlte mich von mir selbst und meinen Vorstellungen überfordert. Warum trocknete ich mich nicht einfach ab, zog mich um und setzte mich zu den anderen? Warum gab ich mich meiner Enttäuschung so hin? Den ganzen Abend noch musste ich darüber nachdenken, wie oft ich etwas erwarte. Von meinem Mann. Von meinen Kindern. Meiner Freundin. Meiner Chefin. Mir selbst. Ja, sogar vom Wetter. Wieso ist das so – und sollte das so sein?

 

Kluge Griechen

 

Ich überlegte, wann zuletzt etwas genau so eingetreten ist, wie ich es mir vorgestellt hatte. Das ist ziemlich lange her. Vielleicht übersehe ich ja irgendetwas, schraube meine Ansprüche zu hoch. Andreas Urs Sommer, der an der Universität Freiburg Philosophie lehrt, glaubt nicht, dass wir heute zu viel vom Leben erwarten. Das Problem sei vielmehr, dass sich in  der Moderne eine ungeheure Fülle von neuen Möglichkeiten eröffnet habe, die wir gelegentlich fast schon verzweifelt versuchen auszuschöpfen. „Wir haben Schwierigkeiten, uns auf eine Sache zu konzentrieren. Entsprechend gehen unsere Erwartungen in die unterschiedlichsten Richtungen: Wir wollen uns selbst verwirklichen, aber auch glücklich sein in Familie und Partnerschaft. Wir wollen uns im Beruf eine eigene Position erschaffen, uns aber nicht auffressen lassen. All das unter einen Hut zu bringen ist gar nicht so leicht.“

 

Sommer ist ein Fan der Stoa. Das ist diese antike Philosophie, die ab etwa 300 v. Chr. für ein halbes Jahrhundert bestimmend für viele Denker der Zeit war. Sie ruft die Menschen dazu auf, ihren Platz im Leben anzunehmen und ihr Glück in den Dingen zu suchen, die für sie tatsächlich erreichbar sind, die sie beeinflussen können. Deshalb zählen etwa Reichtum oder Macht nicht wirklich, und auch von schlechten Erfahrungen wie Krankheit oder Armut sollte man als Stoiker sein inneres Gleichgewicht nicht beeinflussen lassen. Sie sind eh nicht zu verhindern, wohl aber können wir dafür sorgen, dass sie nicht den gelassenen Blick aufs Leben stören. Deswegen kann die Stoa auch helfen, mit einer hohen Erwartungshaltung anders umzugehen. Andreas Urs Sommer sagt: „Für einen griechischen Philosophen war das Streben nach Glück das, was einen Menschen ausmacht. Daher gab es entsprechende Strategien, wie man dieses Glück erreichen konnte. Eine davon ist, die Erwartungen zurückzuschrauben, sich nicht von ihnen auffressen lassen. Dann wird die Chance, dass man das Leben in Zufriedenheit verbringt, größer.“ Wir sollen also versuchen, bescheidener zu sein und geduldiger mit dem, was das Leben uns so anbietet. Denn wir wissen ja gar nicht, was sich daraus ergeben kann.

 

Und Ach, die Liebe

 

Das alles ergibt für mich großen Sinn, verwirrt mich aber auch. Denn auch wenn ich oft ihretwegen enttäuscht werde – ich mag sie, meine Erwartungen. Egal worauf ich mich freue, mein Kopf malt sich automatisch großartige Dinge aus: ein lustiges Essen mit Freunden, tolle Ferien mit der Familie, eine aufregende Arbeit nach dem Jobwechsel. Erwartungen schüren in uns ein Feuer, mal groß, mal klein, lösen ein Kribbeln aus. Und dann? Kommt es vielleicht tatsächlich so, wie wir es uns ausgemalt haben. Vielleicht wird es aber auch ganz anders. Und plötzlich fühlt es sich an, als habe jemand einen Eimer Wasser über das Feuer in unserem Bauch ausgeschüttet, und wir sind maßlos enttäuscht. Dann verliert der Urlaub, ein Fest oder sogar die Liebe ganz schnell diesen Glanz, wirkt nur noch grau und fad auf uns. Oder um es mit einem Spruch zu sagen, den man auf Pinterest vielfach auf Englisch illustriert findet: „Was unser Leben am meisten durcheinanderbringt, ist das Bild in unseren Köpfen, das uns sagt, wie es auszusehen hat.“

 

Und das stimmt irgendwie wirklich. Je mehr ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, dass sich meine Erwartungen aus vielen Dingen zusammensetzen, die ich im Laufe meines Lebens erlebt und gesehen habe. Bilder aus Filmen und Büchern; Familie, Freunde, unserer Kultur und Gesellschaft, sie alle prägen meinen Blick dafür, wie mein Leben „zu sein hat“. Das sind Werte und Vorstellungen, die ich freiwillig angenommen habe, aber bestimmt sind auch welche dabei, die ich übernommen habe, ohne sie zu hinterfragen. So wie etwa für die Mehrzahl der jungen Deutschen zum Glücklichsein eine Familie mit exakt zwei Kindern gehört. Das zeigte eine Untersuchung des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung aus den Jahren 2012 und 2014. Oder wie viele von uns erwarten, mit 40 beruflich fest im Sattel zu sitzen. Oder ein Haus zu besitzen. Warum eigentlich? Sollten wir uns nicht viel eher und öfter die Fragen stellen, ob diese Erwartungen tatsächlich zu dem Leben passen, das wir führen möchten? Mir scheint es, als hätten gerade tradierte Werte einen großen Einfluss auf unsere Sicht aufs Leben. Aber erhöht das nicht auch den Druck? Trüben sie nicht unseren Blick für das, was ist, ja begrenzen uns sogar?

 

Ich weiß noch als ich schwanger war und der Hochzeitstermin schon stand. Alles war gut, nur kam mein zukünftiger Mann nicht auf die Idee, mir einen „richtigen“ Heiratsantrag zu machen. Je dicker mein Bauch wurde, desto schlechter wurde meine Laune. Auf die Idee, selbst zu fragen, kam ich gar nicht. Am Ende sprachen wir zwei Tage nicht miteinander – im letzten gemeinsamen Urlaub ohne Kind. Warum tat ich mir selbst das an? Vielleicht weil wir in der Liebe besonders empfänglich für große Erwartungen sind.

 

So leide ich jedes Mal mit meiner Lieblingsromanheldin Anna Karenina, obwohl ich Tolstois Buch schon drei Mal gelesen habe. Bei Anna führt ihre unerfüllbare Erwartungshaltung an die Liebe, an ihre Umgebung und ihr Leben so weit, dass sie den Verstand verliert. Sie verzweifelt an den Umständen, kann und will nicht akzeptieren, dass ihre Vorstellungen vom Glück nicht zu der Wirklichkeit ihrer Zeit passen. Ich bewundere Anna für ihren Mut, den Gegebenheiten all ihre Leidenschaft entgegenzuschleudern, bemitleide sie aber zugleich, weil ich denke: „Mensch, Anna, wäre dein Leben so viel schlechter gewesen, wenn du nur ein wenig bescheidener gewesen wärst?“ So endet die Geschichte traurig: Anna begeht Selbstmord.

 

So frei wie Katie

 

Aber gibt es in der Liebe überhaupt einen „richtigen“ Umgang mit Erwartungen? Ich weiß oft selbst nicht, was ich von meinem Herzen erwarten darf oder kann. Manchmal spielt es mir Streiche, macht mir etwas vor, lässt mich (fast) schwach werden. Wie das eine Mal, als ich bei einem Konzertbesuch diesen lustigen, uneitlen, selbstbewussten Mann kennenlernte. Er hatte so gar nichts mit meinem Leben zu tun (er war sehr jung, kinderlos und Student). Aber er vermittelte mir für zwei Stunden eine Ahnung davon, wie mein Leben auch sein könnte. Wenn die Liebe wieder ein Abenteuer wäre. Ich malte mir an diesem Abend alles Mögliche aus mit diesem Mann, einfach weil es mir Spaß machte. Als ich später nach Hause kam und wie immer die Klamotten vom Vater meiner Kinder auf der Coach lagen, dachte ich: Der Mann vom Konzert würde das bestimmt nie machen. Doch dann kam mir dieser Satz des US-Psychologen Dan Ariely in den Sinn: „JE  WENIGER  WIR  VON  EINER  PERSON WISSEN,  DESTO  MEHR  SCHÄTZEN  WIR  SIE.  WIR  FÜLLEN  UNSERE  WISSENSLÜCKEN  MIT WUNSCHPROJEKTIONEN  AUF.“ Oh ja, meine Wünsche! Warum nur habe ich, was die Liebe angeht, so viele von ihnen? Und muss mein Partner sie wirklich alle erfüllen? Ich weiß eigentlich, dass es nichts bringt, von ihm zu erwarten, dass er Kinderarzttermine organisiert, den Urlaub plant, sich für meine Arbeit interessiert. Dennoch tue ich es. Und er hofft immer noch, dass ich meine Steuer rechtzeitig erledige oder zugewandter bin. Wir werden uns beide wieder enttäuschen. Warum lassen wir uns auf ein Spiel ein, von dem wir beide wissen, dass wir nicht gewinnen können? Möglicherweise, weil wir falsche Prioritäten setzen.

 

Eine Frau, die das durch Krankheit erkennen musste, ist die Amerikanerin Byron Katie. Sie litt unter Süchten und Depressionen, war eine zutiefst enttäuschte Frau. Irgendwann wurde ihr klar: Ich kann mir die Welt nicht nach meinen Vorstellungen zurechtbiegen. Ich muss sie annehmen, wie sie ist. Und darin entdeckte Byron Katie eine unglaubliche Freiheit. Sie entwickelte eine Methode zur Selbstanalyse, die sie „The Work“ nannte. Dabei stellt man sich zu jedem fordernden Gedanken ein paar Fragen, etwa: „Wie reagierst du, wenn du diesem Gedanken glaubst?“ Damit soll erreicht werden, dass man bestimmte Muster oder Überzeugungen stärker hinterfragt. Das können die großen Sinnfragen sein, aber auch alltägliche Dinge, an denen man sich regelmäßig aufreibt. Ich ärgere mich zum Beispiel immer, dass mein Mann seine Post auf dem Tisch liegen lässt. Nach Byron Katies Methode würde ich jetzt meine Gedanken in eine ganz andere Richtung lenken. Aus „Er sollte seine Post wegräumen“, wird dann etwa „Er sollte seine Post nicht wegräumen“. Oder „Ich sollte seine Post wegräumen.“ Oder „Ich sollte nicht wollen, dass er seine Post wegräumt“. Das erlaubt mir alternative Zugänge zum Thema. Und ich würde möglicherweise erkennen, wie sehr ich mein Bild von ihm mit Erwartungen überfrachte, und darüber nachdenken, warum das so ist und was ich damit bezwecke. Sich selbst so zu hinterfragen ist natürlich ganz schön harte Arbeit. Und Freunde von mir, die es ausprobiert haben, sagen, es sei erschreckend, wie schnell man jedes Mal wieder in sein altes Erwartungsschema zurückfalle. Gleichzeitig schwärmen sie von der inneren Freiheit, die sie so gewinnen. Ich wünsche mir dann, ich würde mich auch trauen, auf diese Art aufs Leben zu blicken.

 

Es ist, was es ist

  

Und dann denke ich oft: Wäre es nicht am besten, einfach gar nichts mehr zu erwarten? Doch bedeutet weniger zu erwarten nicht auch, weniger zu erleben? Oder ist im Gegenteil die Erfahrung viel intensiver, wenn ich sie aufmerksam und achtsam erlebe? Wahrscheinlich geht es überhaupt nicht darum, nichts zu erwarten. Auch nicht darum, das „Richtige“ zu erwarten, denn wer weiß schon, was das Richtige ist? Es geht vielmehr um angemessene Erwartungen. Darum, sich zu fragen, wie viel  ist wirklich drin für mich? Wie viel kann ich den anderen zutrauen, zumuten, wie viel kann ich selbst leisten? Dazu gehört, dass man sich selbst ziemlich gut kennt – und Mut. Mut? Ja, weil nur, wer mutig ist, vor anderen und sich dazu stehen kann, dass manche Dinge eben nicht möglich sind. Oder möglich gemacht werden müssen. Das ist in unserer Welt ziemlich schwierig und anstrengend. Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich sehnsüchtig an die Zeit vor elf, zwölf Jahren zurückdenke. Mein Leben bestand aus: viel ausgehen, viel arbeiten, viel erleben. Damals hatte ich trotz Vollzeitjob jede Menge Zeit, um all die aufregenden Dinge zu tun, die ich vom Leben erwartete. Lange habe ich das Gefühl aus dieser Zeit in meinem Herzen bewahrt und erwartet, dass es bleibt. Es blieb nicht. Das war traurig, bis ich verstand, dass all das, was damals wichtig war, jetzt keine Rolle mehr für mich spielt – trotz aller Sehnsucht. Das Gute ist nämlich, dass sich nicht nur unser Leben verändert, auch unsere Erwartungen ändern sich. Ich wünsche mir heute bei keiner Party mehr, dass meine Gäste bis fünf Uhr morgens durchtanzen, sondern freue mich schon, wenn sie bis Mitternacht bleiben. Wenn ich ehrlich bin, finde ich das sogar viel besser so – dann komme ich wenigstens rechtzeitig ins Bett. Heute versuche ich, mich möglichst oft an Kurt Tucholsky zu halten, der einmal sagte:

 

„Erwarte nichts. Heute: Das ist dein Leben.“