Quelle: pixabay
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Aus "Komm ich erzähl dir eine Geschichte" von Jorge Bucay

ISBN 3-250-60077-6 / 978-3-250-60077-0

 

Der Liebende Blick, Seite 140 ff.

 

„Ich habe das Gefühl, meine Eltern sind alt geworden und nicht mehr so klar bei Verstand wie früher.“

„Und ich habe das Gefühl, du betrachtest sie nur von einem anderen Standpunkt aus.“

„Und was spielt das für eine Rolle? Was ist, das ist, sagst du doch immer.“

 

„Ich erzähle dir was.“

 

Der König hatte sich in Sabrina verliebt, eine Frau von niederem Stand, und sie zu seiner jüngsten Ehefrau gemacht.

 

Eines Nachmittags, der König war gerade auf der Jagd, überbrachte ein Bote die Nachricht, dass Sabrinas Mutter krank daniederlag. Und obwohl es bei Todesstrafe verboten war, die persönliche Kutsche des Königs zu benutzen, bestieg Sabrina den Wagen und eilte zum Haus ihrer Mutter.

Sofort nach seiner Rückkehr wurde der König darüber informiert.

„Ist das nicht fabelhaft?“ sagte er. „Das ist wahre Tochterliebe. Sie hat ihr Leben aufs Spiel gesetzt, nur um ihre Mutter pflegen zu können. Es ist wunderbar!“

 

An einem anderen Tag saß Sabrina im Garten des Palastes und aß Obst, als der König zu ihr trat. Sie begrüßte ihn und ließ ihn vom letzten übriggebliebenen Pfirsich aus ihrem Korb abbeißen.

„Sie schmecken!“ sagte der König.

„Und wie“ sagte Sabrina und überließ ihrem Geliebten die Frucht.

„Wie sehr sie mich liebt!“ bemerkte der König später. „Sie hat zu meinen Gunsten auf ihren letzten Pfirsich verzichtet. Ist sie nicht bezaubernd?“

 

Einige Jahre gingen ins Land, und, aus welchem Grund auch immer, Liebe und Leidenschaft waren aus dem Herzen des Königs verschwunden.

 

Seinem besten Freund gegenüber sagte er: „Nie hat sie sich wie eine Königin verhalten. Einmal hat sie mein Gebot übertreten und einfach die königliche Kutsche benutzt. Und ein anderes Mal hat sie sich erlaubt, mir eine angebissene Frucht anzubieten.“

 

Die Wirklichkeit ist immer dieselbe. Was ist, das ist. Dennoch kann der Mensch, wie in der Geschichte, eine Situation auf die eine oder auf die genau entgegengesetzte Art interpretieren.

 

Sei vorsichtig mit deinen Wahrnehmungen, sagte schon der weise Badwin:

 

„Wenn das, was du siehst, auch nur annähernd zu dem wird, was dir am besten behagt – so mißtraue deinen Augen!“