Quelle: pixabay
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Auszug aus: Die  7 Geheimnisse der Schildkröte – Den Alltag entschleunigen, das Leben entdecken

 

von Aljoscha Long und Ronald Schweppe, erschienen im Heine-Verlag

 

zu den Autoren:

 

Aljoscha A. Long und Ronald R. Schweppe sind international bekannte Autoren, die ganzheitliche Lebenskunst auf ebenso leichte wie effektive Art und Weise zu vermitteln verstehen. Zahlreiche Bestseller stammen aus ihrer Feder. Immer wieder gelingt es ihnen, mit Witz und Esprit die Schätze spiritueller Weltkultur griffig, originell und zeitgemäß darzustellen. Aljoscha Long ist Diplompsychologe, Therapeut und Kampfkunstlehrer, Ronald Schweppe ist Orchestermusiker und Meditationslehrer.

 

ISBN: 978-3-453-70148-9

 

Zusammenfassung der sieben Weisheiten der Schildkröte Kurma:

 

       1.       Gelassenheit: Nimm die Dinge nicht zu wichtig – vor allem aber nicht dich selbst!

       2.       Langsamkeit: Mit Eile lässt sich das Glück nicht einfangen. Willst du dein Ziel erreichen –
           mach einen Umweg!

       3.       Beständigkeit: Vollende, was du beginnst. Beginne damit, deinem Herzen zu folgen!

       4.       Wandlungsfähigkeit: Indem du nachgiebig bleibst und lernst, dich jeder Situation anzupassen,            bleibst du lebendig und bewahrst dein Herz vor Starre!
 5.       Genügsamkeit: Je weniger du haben willst, desto eher hast du alles, was du willst!

       6.       Friedfertigkeit: Öffne dein Herz – wem auch immer du begegnest. Verständnis erzeugt Nähe,

                Gewalt erzeugt Gewalt!

      7.       Sammlung: Bewahre deine Energien, indem du ganz im Hier und Jetzt eintauchst!

 

Zu 6. Friedfertigkeit – Das Geheimnis, sanftmütig zu sich und anderen zu sein

 

Der sechste Wettlauf. Shashaka, der Hase, hatte mittlerweile großen Respekt vor Kurma. Schon fünfmal hatte ihn die alte Schildkröte im Wettlauf besiegt und ihm sogar das Leben gerettet. Doch einmal, einmal nur, wollte er einen Wettlauf gewinnen. Als er Kurma das nächste Mal begegnete, verbeugte er sich höflich, ohne eine Spur von Spott, und unterbreitete ihr die Bitte, nochmals mit ihm um die Wette zu laufen. Kurma nickte gutmütig. Das Ziel sollte wieder der alte Mangobaum sein – doch wollte sie diesmal auch den Weg über die Brücke nehmen, da Shashaka den Fluss nicht schwimmend durchqueren konnte. Als die Sonne ihre ersten Strahlen über den Horizont schickte, begann der sechste Wettlauf. Shashaka lief konzentriert und achtsam und hatte schon nach kurzer Zeit die Brücke erreicht. Doch was war das? Eine Horde Affen hatte sich dort niedergelassen und verweigerte Shashaka den Weg. Shashaka versuchte es mit guten und bösen Worten, mit Versprechungen und Drohungen, doch die Affen feixten nur und lachten ihn aus. Schließlich wurde Shashaka so wütend, dass er dem nächststehenden Affen, der gerade eine besonders lächerliche Fratze zog, einen Stoß versetzte, sodass dieser ins Wasser fiel. Da fiel die Horde über ihn her, zwickte und knuffte ihn, zog ihn an den Ohren und am Schwanz, bis ihm schließlich nichts übrig blieb, als mit beschädigtem Fell und Selbstbewusstsein die Flucht zu ergreifen. Kurz darauf traf Kurma ein. Auch sie wollten die Affen nicht passieren lassen. Kurma nickte, lächelte freundlich und sprach: „Gut, gut! So tut endlich jemand die Arbeit!“ Die Affen hörten auf herumzutollen. „Arbeit? Welche Arbeit?“, riefen sie. „Die des Brückenwächters natürlich!“, entgegnete Kurma. „Niemand sonst will sie tun. Ihr macht das prima!“ Kaum hatte sie ausgesprochen, begannen die Affen zu murren. „Keine Lust!“ „Mach das doch selbst!“ „Nicht mit mir!“ Und sie trollten sich. So gewann Kurma, den Frieden und nicht den Kampf suchend, durch ihre Friedfertigkeit auch den sechsten Wettlauf.

 

Man kann sich über so vieles aufregen, über große und kleine Dinge. In dem Augenblick, in dem man „aus der Haut fährt“ (was ja glücklicherweise niemals wirklich passiert), wird aber auch das Kleinste immer riesengroß. Oft sind es ja wirklich nur Kleinigkeiten. Beispielsweise ein Autofahrer, der trotz freier Fahrbahn ausprobiert, wie langsam sein Auto denn fahren kann. Es gibt nicht wenige, die sich selbst über eine solche Lappalie so erregen, dass sie den Schleicher am liebsten von der Fahrbahn drängen würden. Manchmal geschieht das (oder Schlimmeres) tatsächlich. Und dabei geht es doch  nur um ein paar Minuten, die man früher an seinem Ziel wäre.

 

Andererseits kann man sich natürlich auch über wirklich üble Dinge erregen: Ein Mord an einem Kind beispielsweise berührt wohl jeden fühlenden Menschen. Doch zu dem verständlichen Mitleid für das Kind oder die Eltern gesellt sich oft der Wunsch nach harter Strafe; und oft wird dabei sogar der Ruf nach der Todesstrafe laut. Ein völlig sinnloser Krieg (sind Kriege das nicht immer?) kann uns so wütend machen, dass wir am liebsten eingreifen würden, um den Verursacher – notfalls mit Waffengewalt – in seine Schranken zu weisen. Hungersnöte, die reiche Länder leicht verhindern könnten, Ungerechtigkeit, korrupte Politiker, raffgierige Manager oder Nachbarn, die einem mit ihren Unverschämtheiten den Tag verderben – all das kann Wut, Hass und Gewalt in uns auslösen. Manchmal kommt auch vieles zusammen.

 

Es ist nicht so einfach, niemals in Wut zu geraten. Vielleicht haben ja auch Sie daher hin und wieder das Gefühl, dass Sie kurz vor dem Platzen stehen. Das ist ein Gefühl, das nicht angenehm ist. Und doch fällt es den meisten von uns schwer, völlig ohne Aggressionen zu leben. Der Glaube, dass Aggression zwar nicht schön ist, aber – zumindest in bestimmten Fällen – doch notwendig, ja, dass ein wenig Aggressivität sogar gut sei, ist sehr weit verbreitet.

 

Rantan, der Skorpion, war eigentlich ein netter Kerl. Aber oft war er so aggressiv, dass ihn die anderen mieden. Er hatte schon viel von der weisen Schildkröte Kurma gehört, und so suchte er sie eines Tages auf, um Rat zu erhalten. „Meisterin, was kann ich dagegen tun, dass ich so schnell in Wut gerate?“ Kurma lächelte ihn an, sprach aber kein Wort. „Meisterin, habt Ihr mich nicht gehört?“ Rantan spürte, wie die Wut in ihm aufstieg, und sein Stachel begann zu zittern. Kurma sagte immer noch nichts, sondern lächelte ihn nur freundlich an. „Ach, mögt Ihr doch vom Krokodil gefressen werden!“, schrie er schließlich und wandte sich zum Gehen. Da lachte Kurma laut auf und sprach: „Ratan, mein Lieber, sei doch nicht so hart zu dir selbst!“

 

Wut richtet sich nicht nur gegen jemanden anderen, sondern vor allem gegen den Wütenden. Wut ist immer schädlich. Am allermeisten für den, der wütend ist. Der römische Philosoph Publius Syrus sagte einmal: „Der Zornige wird gegen sich selbst wüten, wenn er zur Vernunft zurückgekehrt ist.“ Und das trifft eigentlich immer zu. Denn in der Regel hält die Wut nicht lange vor. Im Zorn bricht sich die Gewalt Bahn; mit Worten oder sogar mit Taten. Die wenigsten Morde und kein einziger Amoklauf werden kaltblütig ausgeführt. Wieder bei klarem Verstand kommt oft die Scham, meist die Reue, immer aber ein neuer Ärger – der Ärger über sich selbst.

 

Plötzlich steht mal als Tor, als Rohling oder sogar als Mörder da und weiß kaum, wie es geschehen konnte, dass man die Kontrolle so sehr verlieren konnte.

 

Jeder kennt wohl das Gefühl, das mit einem Kribbeln im Bauch beginnt und dann in den Kopf aufsteigt – wir machen uns bereit für Kampf oder Flucht. Unser Gefühl drängt uns zum Handeln. Wir haben das

Gefühl, dass sich irgendetwas Raum verschaffen muss. Wenn wir das dann unterdrücken oder aufgrund der Umstände unterdrücken müssen, ist das sehr belastend für uns. Und das ist auch kein Wunder, denn es ist geradezu ungesund, die Wut zu unterdrücken. Leider ist es aber auch nicht besser, der Wut freien Lauf zu lassen. Nicht mit Taten, nicht mit Worten, ja nicht einmal mit verborgenen Gefühlen.

 

Die Friedfertigkeit ist keine Kunst, die wir nur um anderer willen kultivieren sollten – im Gegenteil: Letztlich geht es vor allem auch darum, uns selbst etwas Gutes zu tun (und uns größeren Ärger zu ersparen).

 

Aus Kurmas Übungen: Der Wut auf die Schliche kommen

 

Erinnern Sie sich kurz an eine Situation, in der Sie sich furchtbar aufgeregt haben. Denken Sie einmal daran zurück, wie Sie sich dabei gefühlt haben (wahrscheinlich äußerst unangenehm). Stellen Sie sich in allen Einzelheiten vor, wie die Wut sich angefühlt hat – körperlich und seelisch. Können Sie sich noch daran erinnern, was Ihnen die Aufregung letztlich gebracht hat? Wahrscheinlich nichts, oder bestenfalls Bauchschmerzen. Vielleicht scheint es Ihnen so, als ob die Wut schon nützlich war; beispielsweise dann, wenn Sie sich mit Aggression durchsetzen konnten. Wenn Sie aber ein wenig selbstkritisch hinsehen, werden Sie feststellen, dass es nicht wegen der Wut, sondern trotz der Wut funktioniert hat.

Versuchen Sie in Zukunft, Ihrer Wut auf die Schliche zu kommen. Wann entsteht sie und warum? Versuchen Sie zu spüren, wie die Wut Ihren Körper verändert – wie sich Ihr Bauch, Ihr Herz oder Ihre Muskeln anfühlen. Sie müssen dazu übrigens gar nicht erst auf den nächsten Wutanfall warten: Schon kleine Verärgerungen genügen, um zu beobachten und seine Wahrnehmung in Bezug auf das Entstehen und Vergehen der Wut zu schärfen.

 

Es gibt immer eine bessere Lösung als Aggression, denn das Gehirn funktioniert einfach nicht mehr so gut, wenn die Wut das Kommando übernimmt. Wenn wir wütend sind, sind wir nicht mehr Herr im eigenen Haus, sondern nur noch ein Sklave der Wut.

 

Rantan suchte Kurma fortan regelmäßig auf, um Rat von ihr zu bekommen. Er hatte zwar bereits verstanden,  dass seine Wutausbrüche vor allem ihm selbst schadeten, doch ihn ließ das Gefühl nicht los, dass er einfach nicht anders könne. „Meisterin, woher kommt es nur, dass ich so schnell wütend werde, obwohl ich es gar nicht will?“ Kurma blickte ihm tief in die Augen und sprach voll Mitgefühl: „Mein

Lieber, wovor hast du solche Angst?“

 

Aggression ist auch immer Angst. Das klingt vielleicht erst einmal etwas überraschend, da wir meist eher annehmen, dass Wut das Gegenteil von Angst ist. Der Ursprung der Wut in unserem Gehirn ist das sogenannte Limbische System, das unterhalb des Großhirns liegt und unter anderem für die grundlegenden Emotionen verantwortlich ist. Das ist auf der einen Seite Lust, auf der anderen Seite aber Angst oder Wut. Tatsächlich sind Wut und Angst beides natürliche Reaktionen auf Angriffe oder Bedrohungen. Ist die Bedrohung übermächtig, reagieren wir mit Angst, wenn ein Kampf aussichtsreich erscheint, mit Wut. Der Übergang ist aber fließend. Wenn wir uns angegriffen oder bedroht fühlen, steigt Angst oder Wut in uns auf, ohne dass wir (erst einmal) etwas dagegen tun könnten.

Ist es nicht verständlich, dass Aggression immer auch Angst ist? Fühlten wir uns nicht bedroht, würden wir weder Angst noch Wut spüren.

 

Als die Menschen noch in den Höhlen hausten, hatten sowohl Angst als auch Aggression eine große Bedeutung: Mit einem Bären oder Säbelzahntiger lässt sich nur schwer eine einvernehmliche Lösung finden. Auch wenn wir mitunter unsere Mitmenschen als Affen, Esel oder Schweine bezeichnen – mit Menschen können wir eine geistige Verbindung aufnehmen, wir können herausfinden, was sie wollen, nach Lösungen suchen und dabei mehr erreichen als mit den alten, instinktiven Überlebensmechanismen.

 

Rantan hatte viel über das nachgedacht, was er bei Meisterin Kurma gelernt hatte: An der Wurzel seiner Wut saß die Angst. „Es ist wohl so, dass meine Angst, ausgelacht und nicht anerkannt zu werden, mich so leicht aufbrausen lässt“, sagte er. „Ich habe versucht, die Wut im Zaum zu halten, doch nun brodelt es in mir.“ Darauf Kurma: „Ein Feuer in eine Strohhütte sperren – so verhütet man keinen Brand.“

 

Wie kann man mit der eigenen Wut umgehen? Das ist wohl gar nicht so einfach. Sollte man seine Aggressionen zügeln, oder ist es nicht auch manchmal gut, „Dampf abzulassen“? Das Bild des brodelnden Dampfkessels scheint ja zuzutreffen – und wenn Wut  Wasser wäre und Sie ein Kochtopf, dann wäre sicherlich Dampf ablassen die einfachste Lösung. Wut ist aber nun einmal kein Dampf und der Mensch kein Topf. Auch wenn die Metapher gefühlsmäßig zutrifft (jemand der wütend ist, spürt einen inneren Druck), passt sie doch nicht auf die emotionale Lage: Zu toben, wenn man Wut spürt, hilft nicht wirklich. Und schon gar nicht Ihnen, wenn Sie wütend sind.

 

Aber eins ist richtig: Die Wut mit aller Kraft zu unterdrücken, jede Beleidigung, jeden Stress zu „schlucken“, tut auch nicht gut. Zwar wird niemand wirklich platzen (im Gegensatz zum verschlossenen Dampfkessel), doch es ist ja schon schlimm genug, wenn Sie sich gestresst und unter Druck fühlen – im Laufe der Zeit werden Sie sich damit nur Magengeschwüre, Herzprobleme, in jedem Fall aber eine schlechte Stimmung einhandeln.

 

Wenn wir Aggressivität spüren und sie in uns verschließen, richtet sie sich gegen uns. Es gibt Menschen, die nie ein lautes Wort oder eine Beleidigung über die Lippen brächten, ganz zu schweigen davon, gewalttätig gegenüber anderen zu werden. Und doch sind sie nicht friedfertig. Ihre Aggression ist nur nach innen und nicht nach außen gerichtet. Sie sind nicht friedfertig, nur gehemmt. Obwohl es von außen ähnlich wirkt, so ist es doch ein bedeutender Unterschied.

 

Manchmal geht das Verdrängen der Wut sogar so weit, dass der Betroffene die Wut gar nicht mehr als Wut wahrnimmt, sondern als Unruhe, innere Angst oder Depression.

 

Auch Gewalt gegen sich selbst ist Gewalt. Gewalt aber, das haben wir ja schon festgestellt, ist niemals hilfreich.

 

Wir stehen also vor einer merkwürdigen Situation: Die Wut herauszulassen, schadet anderen und uns selbst. Aber die Wut nach innen zu richten, ist kaum besser. Zwar scheint es zunächst so, dass es immerhin ein wenig besser wäre, da wir immerhin anderen nicht schaden. Doch nicht einmal das trifft wirklich zu. Ein Mensch, der sich selbst zugrunde richtet, weil er voller Wut ist und die Wut gegen sich selbst wüten lässt, wird kein zufriedener Mensch sein. Und allein dadurch wird er wiederum auf andere wirken. Diese Wirkung wird nicht positiv sein, denn sie hat ihren Ursprung in der zerstörerischen Kraft der Aggression.

 

Rantan hatte das Gefühl, dass etwas an dem, was die Meisterin sagte, nicht ganz stimme. „Eigentlich will ich ja gar nicht aggressiv sein. Nun gut, es ist vielleicht richtig, dass ich wegen einer tief sitzenden Angst so hitzig reagiere. Aber ich reagiere doch nur dann, wenn etwas passiert. Wenn ich nicht das Gefühl hätte, dass mich jemand angreifen würde, wäre ich bestimmt ganz ruhig.“ Kurma lachte. „Mein Lieber, da hast du freilich recht. Du wirst nur wütend, wenn du dich angegriffen fühlst. Zum Beispiel, wenn eine Ameise hustet.“

 

Aggression hat einen Auslöser. Das heißt aber noch nicht, dass der Auslöser die Aggression macht. Wenn Regenwolken am Himmel erscheinen, werden Menschen ihre Regenschirme aufspannen. Die Regenwolken sind also der Auslöser – aber natürlich ist es keineswegs so, dass die Regenwolken irgendwie am Regenschirmaufspannen beteiligt wären!

 

Die Auslöser von Aggressionen liegen also tatsächlich außerhalb aggressiver Menschen, aber die

Auslöser sind nicht wirklich für die Aggression verantwortlich. Wenn Wut und Aggression entstehen, empfindet der Betreffende etwas als Bedrohung. Das heißt weder, dass er tatsächlich bedroht ist, noch, dass er die Bedrohung bewusst wahrnimmt. Äußere Ereignisse allein „machen“ die Wut nicht.

Wenn wir uns genau ansehen, was wirklich passiert, wenn jemand wütend wird, sehen wir, dass jemand, der aggressiv wird, immer davon überzeugt ist, dass andere ihn wütend machen und dass er selbst eigentlich wenig dazu beiträgt. Das ist eine ganz normale Reaktion. Denn niemand will gern wütend sein. Aber es geschieht dennoch, und zwar genau dann, wenn er sich hilflos fühlt.

Beispielsweise auf der Autobahn: Der Fahrer, der schnell fahren will, aber nicht kann, weil der Fahrer vor ihm langsamer ist, wird wütend, weil er glaubt, in seiner Freiheit behindert zu werden. Er blinkt, hupt, fährt dicht auf, zeigt dem anderen einen Vogel – und nichts hilft. Er ist hilflos und wird immer wütender. Der langsame Fahrer fühlt sich bedrängt, dazu gezwungen schneller zu fahren oder hektisch die Spur zu wechseln, obwohl er doch schon über 100 fährt. Er sieht, dass der Fahrer hinter ihm eine Gefahr für andere Menschen darstellt, aber wahrscheinlich ungestraft davonkommt. Er tritt kurz auf die Bremse, fährt noch etwas langsamer, zeigt dem anderen einen Vogel – und nichts hilft. Er ist hilflos und wird immer wütender.

 

Beide fühlen sich hilflos. Beide glauben, „im Recht“ zu sein. Beide werden wütend. Und beide glauben, dass der andere Fahrer ihre Wut ausgelöst hat.

 

Vielleicht meinen Sie das bisher ja auch noch? Viele Menschen wären seltsam berührt, wenn ihnen ein Fremder auf der Straße die Zunge herausstreckt. Manch einer wird das als Beleidigung empfinden und wahrscheinlich würden einige aggressiv darauf reagieren. Stellen Sie sich vor, Ihnen würde das passieren. Wären sie amüsiert, beleidigt, aggressiv? Und wie würden sich Ihre Gefühle verändern, wenn Sie erfahren, dass der Zungeherausstrecker aus Tibet kommt, wo das eine freundliche Begrüßung ist?

 

Wenn wir wütend werden, sollten wir uns also die Auslöser der Aggression genau ansehen, um herauszufinden: „Worauf reagiere ich?“ Dann werden wir beginnen, darüber nachzudenken, warum wir in bestimmten Situationen Wut entwickeln. Zuerst wird der Verstand versuchen, unsere Reaktion zu rechtfertigen. Beispielsweise wird er sagen: „Der Raser gefährdet mich ja wirklich!“ Doch dann, wenn wir diese Gründe hinter uns lassen und die Frage stellen: „Ja, aber warum werde ich deswegen wütend?“, werden wir den Blick vom Außen auf das Innen wenden.

 

„Wann will ich um mich schlagen? Gegen was will ich mich wirklich verteidigen?“ Dabei werden wir auf zwei Antworten stoßen: Erstens werden wir immer dann wütend, wenn unsere Werte verletzt werden, zweitens taucht Wut immer dann auf, wenn wir uns hilflos fühlen.

 

Ratan war verwirrt. „Meisterin, ich habe schon verstanden, dass es nicht gut ist, wenn ich meine Wut in mir einsperre und dabei innerlich verbrenne. Und dass ich meiner Wut nicht freien Lauf lassen kann, habe ich auch eingesehen. Es mag ja wirklich sein, dass ich wütend werde, wenn ich mich hilflos fühle – aber was kann ich tun?“ Kurma schüttelte den Kopf. „Ein Feuer kann am Boden deinen Bau unter dem Baum verbrennen oder aber das Nest des Vogels oben im Baum. Der Unterschied ist nicht groß, denn der Baum nimmt Schaden. Ein Feuer kann aber auch den Teekessel wärmen und Licht spenden. Dann mein Lieber, ist der Unterschied wohl groß!“

 

Friedfertig können wir nicht mit Gewalt werden. Friedfertigkeit bedeutet nicht, die Wut „im Griff“ zu haben, sondern keine Wut zu haben. Das ist einfach gesagt, aber nicht ganz so leicht verwirklicht. Allerdings auch wieder nicht so schwer.

 

Es wird vielleicht klarer, wenn wir die Aggressivität einmal nicht negativ sehen, sondern sie ganz neutral als eine Energie in uns betrachten, die „arbeiten“ muss. Wenn es gelingen sollte, diese Kraft in andere Bahnen zu lenken, wird sie ihren negativen Charakter verlieren. Dann wird aus der Aggressivität … ja, was? Stärke, Entschlossenheit, Bewusstheit, Liebe …

Aber sehen wir uns zunächst einmal genauer an, wie sich die innere Energie als Aggression Bahn bricht.

 

Im Gehirn läuft ein Feuerwerk ab, immer wenn wir denken, handeln oder fühlen. Je nachdem, um welche Gedanken, Verhaltensweisen oder Gefühle es sich handelt, hat das Feuerwerk einen charakteristischen Verlauf. Die Nervenimpulse laufen durch ganz bestimmte Nervenbahnen und lösen immer wieder dieselben Assoziationen, Gedanken und Gefühle aus. Bei einem Baby sind die Bahnen zwischen den Nervenzellen nicht sehr ausgeprägt; sie sind keine Autobahnen, sondern eher wie Trampelpfade im Urwald. Je öfter aber ein solcher „Trampelpfad“ benutzt wird, desto breiter wird er und desto schneller kommen die Nervenimpulse auf ihm voran.

 

Für unsere Gefühle bedeutet das: Je öfter wir Wut empfinden – und zwar ganz gleich, ob wir sie ausleben oder unterdrücken – desto schneller und häufiger werden wir wütend sein. Wer seine Aggressionen auslebt, „übt“ das Ausleben ein, wer sie unterdrück, „übt“ unangenehme Gefühle und Bauchschmerzen.

 

Wenn wir diese Zusammenhänge kennen, sehen wir, dass es etwas anderes gibt, als Aggression auszuleben oder zu unterdrücken. Was geschieht wohl, wenn wir Wut in andere Bahnen lenken, beispielsweise in Bahnen der Gelassenheit? Die Gelassenheit würde im Laufe der Zeit immer größer werden! Das kann selbstverständlich nicht sofort gehen – der „Trampelpfad durch den Dschungel des Gehirns“ muss durch häufiges, zunächst etwas mühseliges Durchkämpfen gebahnt werden. Und wir müssen ein „Umleitungsschild“ in unserem Kopf aufstellen, das die Gedanken und Gefühle von der breiten Nervenzellenautobahn, die zur Aggression führt, auf den noch unsicheren Dschungelpfad lenkt, der Friedfertigkeit bedeutet. Natürlich können wir nicht direkt die Abläufe in unserem Gehirn verändern. Doch indirekt geht das sehr gut. Das Allerwichtigste ist, das Gefühl der Hilflosigkeit zu überwinden. Das heißt, wir müssen uns wieder „ermächtigen“ – oder anders gesagt wieder das Gefühl bekommen, die Kontrolle über die Situation zu haben. Und das ist nicht so schwer: Denn wir haben die Kontrolle! Alles was wir tun müssen, ist die neue Perspektive einzuüben:

 

       -         Wenn ein unverschämter Nachbar Sie anbrüllt, lachen Sie innerlich und sagen Sie sich, dass

                der arme Kerl ja wie Rumpelstilzchen kurz vor dem Herzinfarkt aussieht und sicher darunter
          leidet.   

       -         Ein Bürokrat versucht, Sie in den Wahnsinn zu treiben, doch Sie reagieren nicht ungehalten,

                denn Sie wissen, dass Sie stark sind und er nur ein Rädchen in der komplizierten

                Bürokratiemaschine und dass Sie ihm am besten positiv beeinflussen können, wenn Sie

                freundlich, ruhig und bestimmt auftreten.

      -          Sie hören von einem gierigen Manager, der Tausende von Arbeitsplätzen vernichtet und dafür

                eine Millionenabfindung erhält, doch Sie regen sich nicht auf, sondern schütteln voll Bedauern

                den Kopf und haben Mitleid mit dem armen Menschen, der von seiner Geld- und Machtgier

                getrieben wird, so erbärmlich zu handeln.

      -          Eine Kassiererin zerrt die Ware unfreundlich über den Scanner, würdigt Sie keines Blickes und

                macht ein unfreundliches Gesicht, doch Sie wissen, dass Sie den Laden in einer Minute

                verlassen werden, während die Dame an der Kasse es noch den ganzen Tag lang mit ihrer

                eigenen miesen Laune aushalten muss.

     

      Seine Perspektive auf diese Art und Weise zu verändern, ist natürlich etwas einfacher gesagt als getan. Doch im Grunde muss man nur die dazwischenfunkenden Gedanken abfangen, die einem zurufen: „Ich kann mir doch nicht alles gefallen lassen!“ Und das geht ganz leicht, wenn Sie erst einmal festgestellt haben , dass die Dinge dadurch einfach viel besser laufen und Sie sich viel wohler in Ihrer Haut fühlen.

     

      Natürlich bedeutet es ein wenig „Arbeit“ und Achtsamkeit, um die Perspektive zu verändern, Aggressionsauslöser neu zu bewerten und gute Gefühle einzuüben. Doch die Arbeit lohnt sich! Sie werden schon beim ersten Versuch spüren, wie gut es tut, nicht hilflos der Wut ausgeliefert zu sein, sondern sie zu kontrollieren – einfach indem Sie sie ein wenig anders betrachten.

 

      Anfangs erfordern diese neuen Reaktionen viel Achtsamkeit, denn die sollten schon beim ersten Anflug von Wut ansetzen. Nach einiger Zeit verändern sich dann aber allmählich die „Wutpfade“ im Gehirn. Die „Autobahnen“ veröden, überwuchern und werden immer weniger befahren, während die neuen „Gelassenheitspfade“ immer zugänglicher und breiter werden, bis sie schließlich zu den neuen „Autobahnen“ werden.

 

      Wir haben es in der Hand, zumindest erst einmal unsere eigenen Aggressionen in neue Bahnen zu lenken. Die „neue Perspektive“ ist der beste Weg dahin. Aber es gibt auch noch andere Möglichkeiten: beispielsweise mit der und über die sinnlose Wut zu lachen.

 

Aus Kurma Übungen: Gespiegelte Wut

 

Mit dieser Übung werden Sie sich nicht nur besser kennen lernen, sondern möglicherweise sogar Spaß haben. Ganz besonders aber werden Sie davon profitieren, wenn Sie zu Aggression oder Wutanfällen neigen. Wenn Sie ein sehr friedlicher und ruhiger Mensch sind – macht nichts: Auch für Sie könnte die Übung vielleicht ein paar Einsichten bringen.

 

Die Übung ist ganz einfach. Alles, was Sie dazu benötigen, ist ein Spiegel und etwas Ungestörtheit (um Ihre Familie nicht zu irritieren). Stellen Sie sich vor den Spiegel, und versuchen Sie ein wütendes Gesicht zu machen. Versuchen Sie, die Wut zu spüren. (Das ist der schwierigste Teil für friedliche Menschen). Sie können sich dazu auch Situationen oder Menschen vorstellen, die Sie richtig wütend machen können. Spüren Sie, wie die Aggression allmählich in Ihnen hochsteigt. Und dann blicken Sie in Ihr wutverzerrtes Gesicht – übertreiben Sie ruhig ein bisschen! Wenn Sie finden, dass Ihr Anblick im Spiegel einer gewissen Komik nicht entbehrt, dann lassen Sie Ihrem Lachen freien Lauf.

 

Jemand, der leicht aggressiv wird, wird nach der Übung vielleicht schon ein Stück friedlicher sein, wenn er seine Aggression mit seinem Bild im Spiegel verbindet. Jemand, der Aggressionen kaum kennt, kann ein Stück weit erfahren, wie es für andere ist, aggressiv zu sein.

 

Kurma spricht: „Kämpfe nicht mit der Wut – denn dann gewinnt sie. Lasse sie nicht angreifen – und du hast gewonnen!“

 

In diesem Abschnitt ging es darum, dass Aggression immer schädlich ist – und zwar für den Wütenden. Es ist also nicht gut, Aggression auszuleben, aber auch nicht seine Wut nach innen zu kehren. Wenn wir erkennen, dass wir aggressiv werden, wenn wir uns hilflos fühlen, können wir Wege finden, in uns wieder das Gefühl der eigenen Stärke zu finden, die dann die Aggression, die immer auf Angst und Hilflosigkeit gründet, unnötig macht. Wir können sogar lernen, über unsere Aggression zu lachen – und sie dadurch in neue Bahnen lenken.

 

Meisterin Yuna, die besserwisserische Eule, suchte Kurma eines Tages auf, um mit ihr über Frieden und Gerechtigkeit zu diskutieren. „Kurma, Euer Gerede von Friedfertigkeit klingt freilich sehr edel. Doch wie soll das gehen? Ihr wisst so gut wie ich, dass es böse Wesen gibt, die gewalttätig sind, weil es ihnen Freude macht.“  Kurma schüttelte den Kopf. „Freude?“ Yuna fuhr etwas verunsichert fort. „Nun, vielleicht nicht wirklich Freude. Aber es ist nun einmal ihr Wesen, ihr Charakter, ihre Tradition – nennt es, wie Ihr wollt. Man kann solche Gewalttäter doch nicht einfach wüten lassen. Erinnert Ihr Euch noch an den schwarzen Wolf, der mit seinem Rudel den ganzen Wald beherrschen wollte? Es gab keinen anderen Weg, als ihn zu töten! Hätte man ihn einfach gewähren lassen sollen?“ „Ach Yuna“, seufzte Kurma. „Der kürzeste Weg ist nicht immer der beste und der einfachste nicht der wertvollste.“

 

Ist  Gewalt manchmal unvermeidlich? Beispielsweise, wenn Sie angegriffen werden: Bedeutet Friedfertigkeit etwa, den Angriff zuzulassen?

      

      Nicht unbedingt. (Obwohl Jesus lehrte: Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, halte ihm die linke hin! Dieser Rat ist viel klüger, als die meisten Menschen heute glauben.) Es gibt beinahe immer Alternativen. Fast immer sogar mehr als eine. Zum Beispiel:

     

      -          Flüchten: Das ist oft nicht die schlechteste Strategie, wenn man körperlich angegriffen wird.              Was manche als Feigheit bezeichnen, ist oft nur Klugheit. Selbst dann, wenn man dem

                Angreifer überlegen wäre – mit einer Flucht kann man es vermeiden, ihn zu verletzen.

      -          Verwirren: Das ist eine sehr gute Methode; vor allem dann, wenn es darum geht, Zeit zu

                 gewinnen. Mitunter kann man durch Verwirrung einen Angreifer auch vollkommen aus dem

                 Konzept bringen. Es erfordert allerdings einige Geistesgegenwart, einem Räuber, der einen

                 mit einem Messer bedroht, zu sagen: „Ja, es ist 25 Uhr 78!“

      -          Beruhigen: Jemand, der nicht absichtlich aggressiv wird, sondern wütend ist, kann meist

                 beruhigt werden. Das erfordert aber, dass man ihn ernst nimmt und bemüht ist, ihn auch zu

                 verstehen.

      -          Helfen: Aggression ist immer auch ein Ausdruck von Hilflosigkeit. Was also liegt näher, als zu

                 helfen? Dafür ist aber natürlich meist ein hohes Maß von Einfühlungsvermögen nötig.

      -          Zusammenhalten: Viele Menschen, die Opfer aggressiver Akte werden, sind ebenso Opfer

                der Wegschau-Mentalität ihrer Mitmenschen. Wenn ein Mensch bedroht wird und sich

                mehrere einmischen, wird die Bedrohung meist enden. Dafür muss aber einer den Anfang

                machen, nicht wegsehen und andere zur Solidarität auffordern.

      -          Schützen: eine überschätzte Möglichkeit. Meist wird die Sicherheit durch gesteigerte

                Aggression oder Verlust der persönlichen Freiheit erkauft. Und doch ist es immer noch besser

                als Gewalt.

      -          Belehren: Mit Absicht haben wir diesen Begriff gewählt und nicht „Selbstverteidigung“. Denn

                die beste Selbstverteidigung ist nicht die, die den Angreifer verletzt, sondern die, die ihm die

                 Unsinnigkeit seines Tuns vor Augen führt. Das beste Beispiel dafür ist die japanische

                 Kampfkunst Aikido, in der es keine Angriffstechniken gibt, sondern die Kraft des Angreifenden

                umgeleitet wird, sodass er, je aggressiver er angreift, desto härter fällt.

 

Meisterin Yuna wollte nicht klein beigeben und eingestehen, dass sie durchaus verstanden hatte, was Kurma meinte. „Kurma, es ist ja alles schön und gut, was Ihr sagt. Ich aber sage: Übe Güte gegenüber den Guten und Gerechtigkeit gegenüber den Unguten – so kommt Gerechtigkeit in die Welt.“ Kurma lächelte Meisterin Eule freundlich an. „Ich halte es so: Übe Güte gegenüber den Guten und Güte gegenüber den Unguten. So kommt Güte in die Welt.“

 

In einer Welt, in der es immer noch Ungerechtigkeit, Gewalt, Folter und Diktatoren gibt, scheint es auf den ersten Blick beinahe unmöglich, ohne Gewalt auszukommen. Selbst intelligenten und gutwilligen Menschen erscheint Gewalt oft der einzige Ausweg zu sein.

 

Doch Gewalt führt immer nur zu Gegengewalt. Ohne Ausnahme. Nur kurzfristig scheinen aggressive Mittel ein Weg zu sein. Doch es gibt – wenn auch noch zu wenige – Beispiele, wie Friedfertigkeit zum Ziel führt.

 

Vor hundert Jahren war Indien eine britische Kolonie. Engländer regierten und Inder hatten zu gehorchen. Die Gesetze waren ungerecht, und viele Inder sehnten sich nach Unabhängigkeit, die die Briten, schon allein aus wirtschaftlichen Gründen, nicht einmal in Erwägung zogen. Doch dann trat ein junger Inder in der Öffentlichkeit auf, der bereits in Südafrika 22 Jahre lang für eine bessere Behandlung seiner Landsleute gewaltlos gekämpft hatte: Mohandas Karamchand Gandhi. Bei seiner Ankunft in Indien gab ihm der Nobelpreisträger Rabindranath Tagore seinen Ehrennamen, unter dem er heute noch bekannt ist: Mahatma („Große Seele“).

 

Mahatma Gandhi war fortan der Führer der indischen Unabhängigkeitsbewegung: ein Unternehmen, das zu dieser Zeit völlig aussichtslos erschien. Es hatte schon früher Aufstände gegen die Besatzer gegeben, die stets blutig niedergeschlagen wurden. Gandhi kämpfte jedoch nicht. Er setzte seine Philosophie des Satyagraha („beständiges Festhalten an der Wahrheit“) um – eine Strategie, die im Wesentlichen darauf beruht, den Gegner nicht als Feind zu betrachten, sondern mit Freundlichkeit und gewaltfreiem Widerstand sein Herz, seine Vernunft und sein Gewissen anzusprechen.

Gandhi hatte erkannt, dass Gewalt oder Drohungen stets mehr Gewalt bewirken, dass Gewalt nur scheinbar und kurzfristig Probleme zu lösen scheint. Der einzige Weg, die Gewaltspirale zu durchbrechen, ist Gewaltlosigkeit. Das erschien damals, wie auch den meisten Menschen heute noch, als sehr blauäugig. Doch Gandhi wusste, was er tat. Er betrachtete seinen Weg des Satyagraha und des gewaltlosen Widerstandes nicht etwa als „Waffe der Schwachen“, sondern als „Werkzeug der geistig Stärksten“.

 

Mit seinen Aktionen – er verweigerte den Gehorsam, widersetzte sich unmoralischen Gesetzen, bewegte die Menschen dazu, das Salzmonopol zu umgehen – zog er natürlich den Zorn der Briten auf sich. Er wurde misshandelt und ins Gefängnis geworfen; er verbrachte insgesamt acht Jahre seines Lebens in Gefangenschaft. Doch das gehörte zu seiner Philosophie: Wenn es nicht gelingt, die Machthaber von der Ungerechtigkeit zu überzeugen, verletzt man diese Gesetze und nimmt die Bestrafung und Leiden auf sich. Dadurch appelliert man an das Herz und das Gewissen der Herrschenden.

 

Das erscheint auf den ersten Blick beinahe verrückt. Doch es ist eben keine kurzfristige Strategie, die sofortigen Vorteil verschafft. Auf lange Sicht jedoch, davon war Gandhi überzeugt, wird der Gegner der Vernunft, dem Gewissen und der Kraft des Herzens nicht widerstehen können. Und in der Tat gewann Indien 1947 seine Unabhängigkeit – was allein Gandhi zu verdanken war, der viele Jahre lange seine Methode des gewaltfreien Widerstandes entwickelt, verbreitet und konsequent umgesetzt hatte.

Gandhis „Methode“ war seine Philosophie des Satyagraha, was etwa „beständiges Festhalten an der Wahrheit“ bedeutet. Gandhi war davon überzeugt, dass der Kraft der Wahrheit und des Herzens auf Dauer nichts widerstehen kann. Praktisch bedeutete das im Bestreben nach Indiens Unabhängigkeit: Appelle und Petitionen gegen ungerechte Gesetze, um den Machthabern die Ungerechtigkeit vor Augen zu führen. Das bewirkte nicht viel. Darauf setzte er passiven Widerstand ein, indem jegliche freiwillige Handlungen, die das System stützen, eingestellt werden. Die nächste Stufe war der zivile Ungehorsam: Ungerechte Gesetze wurden nicht befolgt und ungerechte Steuern nicht bezahlt. Das führte natürlich zu Sanktionen – Gandhi und seine Anhänger wurden immer wieder inhaftiert. Indem sich jedoch immer mehr Menschen Gandhis Bewegung anschlossen, trat allmählich ein Bewusstseinswandel ein, der schließlich zur Unabhängigkeit führte.

 

Natürlich können wir das alles hier nur sehr verkürzt darstellen, und viele Menschen werden vor allem einwenden, dass Gandhi ein sehr ungewöhnlicher, willensstarker Mensch war. Das ist natürlich richtig. Doch es zeigt eben, dass Gewalt nicht notwendig oder auch nur sinnvoll ist, um gegen einen scheinbar übermächtigen Gegner anzutreten.

 

Wenn man auch nicht bestreiten kann, dass Gandhi eine Ausnahmeerscheinung war und dass Satyagraha einem Menschen sehr viel abverlangt: Was ist die Alternative? Wie kann man mit Diktatoren, Unterdrückern, Massenmördern, Terroristen und Unrechtsregimen umgehen? Es gibt sicher keine einfache Antwort. Doch die Welt kann nur durch Verzicht auf Gewalt, nicht durch mehr Gewalt  von Gewalt geheilt werden. Das bedeutet nicht,  die Augen zu verschließen. Manche Situationen sind so, dass sie nicht so bleiben können: Dann müssen wir nach Lösungen suchen. Das erfordert viel Kreativität, Einfühlungsvermögen, Kraft, Umsichtigkeit und Klugheit. Friedfertigkeit bringt daher notwendigerweise die besten Eigenschaften des Menschen zum Vorschein, während Gewalt, selbst dann, wenn sie „gut gemeint“ ist, immer die schlechtesten Eigenschaften verstärkt. Friedfertigkeit ist keine Dummheit – sie beruht auf der Einsicht, dass die einfachste Antwort sicher nicht die klügste ist. Gewalt führt zu Gewalt. Jeder gewaltsame Tod erzeugt Hass. Hass erzeugt wieder Gewalt und neuen Hass.

 

Rantan kam dazu, als Meisterin Yuna gerade mit Kurma diskutierte. Yuna sagte gerade: „Es ist ja sehr edel von Euch, dass Ihr immer nur Güte zeigen wollt. Doch das geht ja nicht: Es ist unsere Pflicht, die Dummen und die Bösen auf den rechten Weg zu führen!“ Plötzlich sah sie Rantan und flog erschreckt auf. „Kurma, geb acht! Dort ist ein Skorpion. Rasch, zertretet ihn!“ Rantan und Kurma blickten sich amüsiert an. „Ach Yuna! Wenn ich alle meine Schüler zerträte, wie sollte ich da lehren?“ Peinlich berührt setzte sich Yuna wieder und räusperte sich. „Hm, nun ja. Die Dummen und die Bösen müssen wir belehren. „ Kurma darauf: „Wer kann die Dummen und die Bösen belehren, wenn er sie nicht versteht?“

 

Wenn man Gewalt rechtfertigen will, braucht man zumindest eines: das Bewusstsein, dass die eigene Sicht die richtige ist und die des anderen die falsche. Einer der ersten Schritte zur Friedfertigkeit ist daher zu verstehen, dass es andere Meinungen, Ansichten, Blickwinkel gibt. „Betrachte immer alles aus mindestens zwei Perspektiven“. Wenn es gelingt, diese Regel im Alltag anzuwenden, wird fast immer die Idee, dass Gewalt eine sinnvolle Lösung sein könnte, in sich zusammenfallen. Gibt es zwei Möglichkeiten, etwas zu sehen, kann kein Fanatismus entstehen. Und ohne verzweifeltes Anklammern an eine Ansicht gibt es keine Angst, die zur Aggression führt.

 

Aus Kurmas Übungen: Frosch und Adler

In dieser Übung geht es darum, zwei Perspektiven einzunehmen. Das müssen nicht unbedingt komplizierte philosophische oder weltanschauliche Perspektiven sein. Wenn Sie sich in einer Situation aufgeregt und hilflos fühlen, befinden Sie sich in der „Frosch-Perspektive“: Sie sind unten, die anderen oben, „über Ihnen“. Betrachten Sie nun dieselbe Situation noch einmal aus der „Adler-Perspektive“, von ganz weit oben. Sie werden feststellen, dass diese neue Sicht auf die Welt Ihre Gefühle verändert. Sie betrachten das Ganze distanziert, von einem übergeordneten Punkt. Probieren Sie das doch mal aus, wenn Sie beispielsweise mit der ungerechtfertigten Kritik eines Kollegen konfrontiert sind. Nehmen Sie zunächst wahr, wie Sie automatisch die „Frosch-Perspektive“ einnehmen. Sie fühlen sich hilflos und werden wütend oder es kocht in Ihnen. Nehmen Sie dann bewusst die „Adler-Perspektive“ ein. Sehen Sie sich und Ihren Kollegen wie aus großer Höhe. Das macht Sie nicht arrogant, sondern nur gelassen: Sie werden leichter Ruhe bewahren können, fühlen sich nicht „von oben herab“ behandelt (Sie stehen ja darüber), und es ist Ihnen gleichzeitig möglich, die Argumente Ihres Kollegen unvoreingenommen wahrzunehmen.

 

Es ist sicher nicht immer einfach, eine fremde Perspektive einzunehmen. Seinen Aggressionen freien Lauf zu lassen, ist da schon viel leichter, denn die schwierige Suche nach Lösungen bleibt einem so erspart. Die Frage ist nur, ob auf diese Weise überhaupt Lösungen gefunden werden können.

Das beginnt nicht erst in der großen Politik, nicht einmal in der Tagespolitik, nicht einmal im Alltag eines Erwachsenen, sondern schon im Kleinen. Oder vielmehr bei den Kleinen: Eltern fällt es gegenüber ihren Kindern oft ausgesprochen schwer, friedfertig zu bleiben. Kaum etwas ist aber so wichtig.

Ob ein Kind schreit, tobt, nicht gehorcht, frech ist, etwas kaputt macht – immer noch ist die Antwort darauf nicht selten Gewalt, glücklicherweise nicht mehr so oft körperliche Gewalt (obwohl auch das wieder zunimmt). Aber jede Maßnahme, die die Würde des Kindes verletzt, die nicht lehrt, sondern zwingt oder, fast noch schlimmer, durch Gleichgültigkeit bestraft, verletzt die Seele des Kindes. Die einzige Lehre, die Kinder aus Gewalt ziehen, ist die, dass Gewalt berechtigt und „normal“ ist.

Kurma spricht: „Du kannst keinem Vogel helfen, auf die Welt zu kommen, indem du mit einem Stein auf ein Ei schlägst.“

 

Wir haben in diesem Abschnitt überlegt, ob Gewalt manchmal sinnvoll sein kann. Manchmal mag es so scheinen, doch der Schein trügt, da Gewalt nur zerstört, aber nichts aufbaut. Da Aggression immer neue Aggression nach sich zieht, kann nur Friedfertigkeit die Lösung bringen. Friedfertigkeit ist aber nicht dasselbe wie Passivität. Lösungen zu finden mag sehr schwer sein – mit Gewalt eine Lösung zu suchen heißt jedoch, die Suche nach einer Lösung aufzugeben.

 

Rantan war froh, seine frühere Aggressivität überwunden zu haben. Doch immer wenn er von den vielen Grausamkeiten in der Welt hörte, spürte er, wie die alte Wut in ihm aufkam. Mittlerweile konnte er aber schnell wieder ruhig werden – und doch war er beunruhigt. „Meisterin, wir leben glücklich und in Frieden. Aber was ist mit den armen Geschöpfen, die unter Unwissenheit, Begierde und Gewalt leiden? Können wir nichts tun, um zu helfen?“ Kurma schloss die Augen und sagte: „Du hast den Frieden in dir noch nicht gefunden.“ Rantan überlegte eine Weile. Dann sprach er: „Ihr habt wohl recht. Doch wenn ich den Frieden in mir gefunden habe – was kann ich dann tun?“ Kurma öffnete die Augen und lächelte ihn strahlend an. „Wenn es in dir vollkommen friedlich ist, was könnte dann unfriedlich sein?“

Frieden bedeutet, nicht gegeneinander, sondern miteinander zu handeln. Dazu ist es keineswegs notwendig – ja oft nicht einmal wünschenswert -, das Gleiche zu tun. Beispielsweise bei einem Fußballspiel:

 

22 Spieler können miteinander spielen. 11 Spieler versuchen, in das eine, die anderen 11 in das andere Tor zu treffen. Dass sie unterschiedliche Ziele haben, macht das Spiel aus; es ist keine Feindschaft. Jeder Spieler respektiert seine Mitspieler, vermeidet, seinen Mitspielern Schaden zuzufügen, und kann darauf vertrauen, dass sie ihn nicht verletzen. Das Spiel gründet auf der Freude an der Bewegung und am Erkunden der eigenen Grenzen.

 

22 Spieler können aber auch gegeneinander spielen. Zwei feindliche Parteien stehen einander  gegenüber, die darum kämpfen, den anderen zu besiegen. Um beinahe jeden Preis. Wenn der Gegner nicht verletzt wird, dann nur deshalb, um möglichen Strafen zu entgehen. Aber wenn es sich lohnt, wird der Feind auch dann verletzt. Das Spiel gründet auf Geltungsdrang und Eigennutz. Im Profi(t)fußball spielen die Spieler nicht miteinander, sondern gegeneinander – die Folgen sind Verletzungen, Wut und Enttäuschung. Und die Spieler haben nicht annähernd so viel Freude am Spiel wie Kinder bei demselben Spiel. Selbst bei Spielen gibt es selten Friedfertigkeit. Das ganze Leben scheint ein Kampf zu sein.

 

Aggression ist natürlich. Ein Tier überlegt nicht, sondern handelt auf die simpelste, einfachste und unmittelbarste Art und Weise – gedankenlos. Ist es krank, kann es nicht darüber nachdenken, dass es vielleicht vernünftig wäre, sich einem Menschen gegenüber sanftmütig zu verhalten, damit er es zum Tierarzt bringt – es wird viel eher wütend oder verängstigt aggressiv reagieren. Aggression ist natürlich, aber tierisch. Sie ist des Menschen, der sich seiner Möglichkeiten bewusst ist, unwürdig.

Alle Religionen lehren Friedfertigkeit. Und doch kämpfen ihre Anhänger mit- und gegeneinander, als hätten Jesus, Mohammed oder Buddha niemals gelebt. Können wir überhaupt hoffen, mehr Frieden in die Welt zu bringen?

 

Immerhin können wir einen kleinen, aber sehr wichtigen Teil der Welt in eine Insel der Sanftmut verwandeln: uns selbst.

 

Wir sollten zunächst damit beginnen, den Frieden in uns selbst zu suchen. Wenn wir schon mit uns

selbst kämpfen, wenn wir uns selbst Gewalt antun, wenn unsere Gedanken und Gefühle gegeneinander streiten: Wie soll Frieden im Äußeren sein, wenn er nicht wenigstens schon im Inneren ist?

 

Der Weg zu innerem Frieden ist Meditation.

 

      -          Wir können einfach friedlich sitzen.

      -          Wir können unserem Atem folgen.

      -          Wir können die Gedanken bei Musik oder Malerei friedlich werden lassen.

           Ist die Sanftmut erst einmal in uns, wird es uns schon viel leichter fallen, auch friedfertig nach

           außen zu handeln. Wir müssen keine Staatsmänner und Würdenträger sein, um Frieden in

           die Welt zu bringen.

      -          Wir können unsere Kinder ohne Gewalt groß werden lassen.

      -          Wir können mit unseren Freunden und unserer Familie verständnisvoll umgehen.

      -          Wir können fremden Menschen offen und friedfertig begegnen.

      -          Wir können unsere Untergebenen respektieren und sie nicht in ihrer Würde verletzen.

      -          Wir können unsere Vorgesetzten als Mitmenschen und nicht als Feinde betrachten.

      -          Wir können gewaltfrei kommunizieren.

 

Jeder ist Teil der Welt. Alle Teile der Welt sind untrennbar miteinander verwoben. Der Einzelne und die Welt sind also auf einer höheren Ebene eins. Daher macht jeder einen Unterschied. So wie Gewalt Gewalt zeugt, gebiert Güte Güte.

 

Wenn wir in uns hineinhorchen und die Insel der Friedfertigkeit in der Mitte unseres Herzens entdecken, finden wir Gelassenheit, Geborgenheit und Glück – und verändern dabei ein wenig die Welt, in der wir leben.

 

KURMAS LOB DER FRIEDFERTIGKEIT

 

Mit der Welt im Einklang sein,
das heißt Siegen durch Nichtkämpfen.
Daher siegt,
wer schweren Herzens kämpft.
Daher siegt,
wer keine Freude am Kämpfen hat.
Daher siegt,
wer keine Freude am Sieg hat.