Abgesichert denkt und handelt es sich besser!
Menschen, für die ein Leben in Absicherung zur Selbstverständlichkeit geworden ist, können die Tiefe dieser Aussage vielleicht gar nicht verstehen. Und Menschen, für die genau das Gegenteil gelebte Realität ist, vermögen ihr Gefühl manchmal nicht in passende Worte zu kleiden.
Fabio Volo schreibt in seinem Buch "Zeit für mich und Zeit für dich", den wunderbaren Satz: "Lesen heißt, dass dir plötzlich die richtigen Worte begegnen für das, was du selbst nie wirklich darstellen oder ausdrücken konntest." (S. 73)
Dieses Buch ist eine Liebesgeschichte, aber nicht nur. Fabio Volo beschreibt in seinem Buch die Armut inmitten einer Wohlstandsgesellschaft. Einer Armut, die oft von denjenigen, die nicht von ihr betroffen sind, nicht als Armut anerkannt wird. Dadurch wächst das Unverständnis mancher Handlung von Betroffenen. Wer sich aber in die Gefühlswelt der Betroffenen wagt, kommt zu einem anderen Verständnis!
Der kaputte Rollladen
Meine Familie war arm. Armut, das ist für mich wie an einem gedeckten Tisch zu sitzen und keine Hände zu haben.
Es war nicht jene telegene Art von Armut, wie sie oft im Fernsehen gezeigt wird: Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben und Hunger leiden. Unsere Armut war anders: Man hat zu essen und ein Dach über dem Kopf, besitzt einen Fernseher, ein Auto. So dass man gerade noch verhehlen kann, dass man arm ist. Eine Armut voller Gegenstände, deren Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist. Wer in dieser Art von Armut lebt, hat zugleich Glück und Pech: Es gibt Leute, denen es bessergeht, und andere, denen es schlechtergeht. Und doch bedeutet diese Armut Scham, Schuldgefühl, ständige Einschränkung, Angst und vor allem Unsicherheit, unterdrückte Wut, ein stets gesenkter Kopf. Man ist nicht so arm, dass man keine Kleider am Leib hätte, aber man fühlt sich in diesen Kleidern nackt, sie verraten einen. Ein Flicken genügt, und jeder weiß, was für einer du bist. Diese Armut hält das Gehirn so besetzt, dass darin kein Platz für anderes bleibt, vor allem nicht für irgendeine Art von Schönheit. Schönheit ist ja nicht funktional, nicht nützlich.
Du lebst ein Leben, das in den Augen der anderen ganz normal aussieht, doch in Wirklichkeit bist du einem anderen Gesetz unterworfen, dem Gesetz der Entbehrungen. Und ganz allmählich lernst du zu lügen. Mal sind es größere, mal kleinere Lügen. Wenn das Telefon gesperrt wurde, sagst du, es sei kaputt, und zum Abendessen kommst du nicht mit, weil du angeblich anderweitig verpflichtet bist oder jemandem dein Auto geliehen hast; dabei hast du in Wahrheit die Versicherung nicht bezahlt oder kein Geld für Benzin.
Du wirst zum Experten in der Kunst des Lügens, und vor allem lernst du, dir zu behelfen, lernst reparieren, ausbessern, kleben und nageln. Da ist der kaputte Rollladen, der heruntersaust wie eine Guillotine und nur oben bleibt, wenn du ein Stück Pappe unter den Riemen klemmst. Da ist die fehlende Fliese im Bad, das Loch unter dem Waschbecken, durch das man die Rohre sehen kann, das Stück Furnier, das von der Ecke des Küchenschranks abgesplittert ist. Die Schublade, die herausfällt, wenn du sie aufziehen willst. Die Schranktür, die nur schließt, wenn du sie anhebst. Die Steckdosen, die lose runterbaumeln, weil sie jedes Mal, wenn du den Stecker ziehst mit aus der Wand kommen. Die Tapete, die sich an den Stoßkanten löst. Der feuchte Fleck in der Küche, über dem sich der Anstrich so einladend wölbt, dass du dich zusammenreißen musst, um keine Leiter zu holen, hinaufzuklettern und die Blase zum Platzen zu bringen. Die Stühle, die aus dem Leim gehen und das Sitzen zum Wagnis machen.
Es ist eine Armut, in der Kleber und Tesa die Dinge zusammenhalten, in der man eine ganze Schublade voller Handwerkszeug braucht, um eine Wirklichkeit zu flicken, die überall bröckelt. Alles ist wackelig und provisorisch und wartet auf bessere Zeiten und hält doch ein Leben lang.
Als ich meinen Vater das erste Mal sagen hörte: „Ich bin ein Versager“, konnte ich nicht wissen, was ein Versager ist. Ich war noch zu klein. Ein paar Männer waren gekommen und hatten Sachen aus der Bar mitgenommen. „Pfändung“ war das andere Wort, das ich damals lernte. Von da an stellte ich keine Fragen mehr, wenn Unbekannte in die Bar oder zu uns nach Hause kamen und Sachen mitnahmen. Ich wusste zwar nicht, was genau da vor sich ging, aber ich kapierte es doch. Als Kind lernt man schnell. Deshalb begriff ich auch, dass das Auto meines Vaters dieser Männer wegen auf den Namen meines Großvaters mütterlicherseits lief. So hieß das: „Auf den Namen eines anderen laufen“ – ich kannte den Ausdruck nicht, aber ich begriff alles.
Ich wuchs heran und sah, wie mein Vater sich krumm schuftete, um den Problemen gewachsen zu sein. Tagein, tagaus arbeitete er in der Bar, auch wenn er krank war. Selbst sonntags, wenn geschlossen war, verbrachte er einen Großteil des Tages bei der Arbeit, machte die Bestellungen, schaffte Ordnung, putzte, besserte aus.
Nicht ein einziges Mal bin ich mit meinen Eltern in die Ferien gefahren. Im Sommer wurde ich bei meinen Großeltern mütterlicherseits abgeliefert, die jeweils für ein paar Wochen ein Haus in den Bergen mieteten.
Sonntags kam meine Mutter mich dort besuchen, allein, und überbrachte mir Grüße von meinem Vater. Es gibt kein einziges Foto von uns dreien vor einer Sehenswürdigkeit. Für gemeinsame Ferien war kein Geld da.
Geld … Ich kriegte mit, wie mein Vater es sich bei allen möglichen Leuten borgte. Bei Verwandten, Freunden, Nachbarn. Wie er sich demütigte und gedemütigt wurde. Oft begleitete ich ihn als Kind zu irgendwelchen Freunden, Leuten, die ich nicht kannte. Ich musste dann in der Küche warten, während er mit dem Freund ins Nebenzimmer ging, um etwas „zu regeln“. Wenn die unbekannte Hausfrau, in deren Gesellschaft ich warten musste, mich fragte, ob ich etwas essen oder trinken wollte, sagte ich immer nein. Überhaupt sprach ich nicht viel, ich fühlte mich immer unbehaglich, alle kamen mir vor wie Riesen. Meinem Vater ging es vermutlich genauso.
Alle bat er um Geld, wirklich alle. Selbst mich, als ich noch klein war. Einmal kam er zu mir ins Zimmer – ich hatte Fieber, und es ging mir schlecht, aber ich war trotzdem glücklich, weil meine Mutter gesagt hatte, das Fieber komme daher, dass ich am Wachsen sei.
„Papa, wenn ich wieder gesund bin, bin ich ein ganzes Stück größer. Weißt du, ob ich mal so groß werde wie du?“
„Na klar, sogar noch größer.“
Als er ging, nahm er meine Spardose, ein rotes Nilpferd, mit. Er werde das Geld zur Bank bringen, sagte er, und wenn ich es irgendwann wiederhaben wolle, werde es mehr geworden sein. Damit kriegte er mich rum.
Mit der Zeit kam ich dahinter, was tatsächlich mit dem Inhalt meiner Spardose passiert war, und ich fühlte mich belogen und betrogen. Ich lernte früh, Erwachsenen nicht zu trauen, und verbarg meine Verletzlichkeit hinter gespielter Stärke. Ich hatte niemanden an meiner Seite, der Stärke ausgestrahlt und mir das Gefühl gegeben hätte, beschützt und in Sicherheit zu sein. Viele Menschen müssen im Laufe ihres Lebens einsehen, dass der übermächtige Vater gar nicht so mächtig ist. Ich wusste das schon als Kind. Auch ich hätte meinen Vater gern für unbesiegbar gehalten, aber diese Illusion zerbrach früh.
Mein Vater schuftete und schuftete. Ich erinnere mich, wie er während der Abendnachrichten am Tisch einschlief. Sein Kopf sank langsam immer tiefer, bis ihn schließlich ein letzter heftiger Ruck wieder aufweckte, als hätte er einen Schlag in den Nacken bekommen. Das brachte mich zum Lachen. Er blickte dann verstört um sich, versuchte zu verstehen, wo er war, und herauszufinden, ob meine Mutter und ich es mitbekommen hatten. Wenn er merkte, dass ich ihn beobachtet hatte, lächelte er und zwinkerte mir zu. Das machte mich glücklich. Jedes Mal, wenn er mir zuzwinkerte, am besten so, dass meine Mutter es nicht sah, fühlte ich mich ihm nah, fühlte mich wie sein Komplize. Es war dann eine Sache zwischen uns Männern. Ich versuchte zurückzuzwinkern, kriegte es aber nicht hin und kniff einfach beide Augen zu. Oder ich legte meinen Finger auf eins. Jedes Mal hoffte ich, dies sei der Beginn einer neuen, innigeren Freundschaft zwischen uns. Dass er von jetzt an öfter mit mir spielen und mich überallhin mitnehmen würde. Ich war so glücklich, dass ich auf meinem Stuhl mit den Beinen zu strampeln begann, als schwämme ich in diesem Gefühl. Aber die Verbrüderung ging nie über diesen kurzen Augenblick hinaus. Nach dem Essen stand er auf, um noch ein paar Dinge zu erledigen oder wieder an die Arbeit zu gehen. Ich war noch klein und verstand das nicht, dachte nur, dass er mich nicht wollte, nicht den Wunsch hatte, bei mir zu bleiben.
All meine Versuche, seine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, seine Liebe zu gewinnen, schlugen fehl. Bei meiner Mutter war ich da sehr viel erfolgreicher. Sie lachte, wenn ich etwas Lustiges sagte, sie lobte mich, umarmte mich, und ich fühlte mich unendlich stark: Ich hatte es in der Hand, ihre Stimmung zu ändern, ich konnte sie froh machen. Bei meinem Vater funktionierte das nicht. Ich konnte nichts tun, damit er mich liebhatte.
Trotzdem erinnere ich mich auch an schöne Dinge, die er für mich getan hat oder die wir zusammen erlebt haben. Zum Beispiel als meine Mutter für eine kleinere Operation ins Krankenhaus musste und in der Zeit meine Oma zu uns kam, um zu helfen. Oma schlief in meinem Zimmer und ich bei meinem Vater im Ehebett. Jeden Morgen, bevor er hinunter in die Bar ging, kochte er mir zum Frühstück Vanillepudding. Ich erinnere mich noch genau daran, wie der Tisch gedeckt war.
Oder an jenen Samstagabend, als er, Mama und ich eine Pizza essen gingen. Es war das erste Mal, dass wir zum Abendessen ausgingen. „Und was machen wir Montag, wenn der Mann vom Wasserwerk kommt und sein Geld will?“, fragte meine Mutter. „Keine Ahnung, das überlegen wir uns morgen“, antwortete er.
Auf dem Weg zur Pizzeria hob mein Vater mich auf seine Schultern. Ich erinnere mich ganz genau an alles. Zuerst hielt er mich an den Händen fest, dann packte er mich an den Fußgelenken, und ich legte die Hände auf seinen Kopf und krallte mich in seine Haare. Ich kann immer noch seinen Hals zwischen meinen Beinen spüren. Nie war ich größer. Nie schlug mein Herz höher. Ich weiß nicht, was an diesem Abend mit ihm los war, aber plötzlich war er ein richtiger Vater. Er schnitt mir sogar die Pizza klein. Er war nett, lachte über meine Bemerkungen. Auch meine Mutter lachte. An jenem Abend waren wir eine glückliche Familie. Er noch mehr als wir. Vielleicht war der Mann, den ich an diesem Abend sah, mein wirklicher Vater, der Vater, der er ohne all die Probleme gewesen wäre.
Als wir mit dem Auto zurück nach Hause fuhren und ich hinter ihnen zwischen den Sitzen stand, wünschte ich mir, dass dieser Abend niemals zu Ende ginge. Darum sagte ich: „Darf ich noch aufbleiben, wenn wir wieder zu Hause sind?“ Aber noch während der Fahrt schlief ich ein.
Am nächsten Morgen war alles wie immer. Es war Sonntag. Meine Mutter werkelte in der Küche, mein Vater räumt in der Bar auf.
„Gehen wir heute Abend wieder Pizza essen?“
„Nein, heute bleiben wir zu Hause.“