Feldpost aus dem zweiten Weltkrieg

 

Meine Großväter habe ich nicht mehr kennengelernt. Der Vater meines Vaters starb in amerikanischer Gefangenschaft. Der Vater meiner Mutter, Bruno, kehrte zwar aus der russischen Gefangenschaft heim, aber die Kriegs- und Berufsjahre als Hochofenmaurer zerstörten seine Gesundheit. Er ist nur 50 Jahre alt geworden.

 

Meine Oma erinnerte sich gerne an ihren Bruno. Unvergeßlich blieben ihr aber auch die ständige Todesangst in den Bombennächten, der Hunger und die Sorge um ihren Mann an der Front. Diese Zeit hat sie überstanden, weil sie die Hoffnung nicht aufgeben wollte und weil die Liebe zu ihrem Mann sie stark gemacht hatte. Etwas aus dieser Zeit, was sie bis zu ihrem eigenen Tod gehütet hat wie einen Schatz: war die Feldpost von ihrem Bruno.

 

Der Krieg ist vorbei! Aber wo ist Bruno? Lebt er nicht mehr oder ist er in Gefangenschaft? Das erste Lebenszeichen ist seine Karte vom 6. März 1946, sie liest sich fast wie eine Urlaubskarte: "Liebe Frau! Herzliche Grüße aus Rußland. Mir geht's gut. Hoffe von Euch dasselbe. Habe nur Sehnsucht nach Euch. Schreib mir bald. Grüße und Küsse  Bruno"

 

Ihre Heimatstadt Bochum war stark zerstört, die Lebensmittelversorgung katastrophal. Sie mußte nicht nur für fünf Personen sorgen, die in zwei kleinen Zimmern kampierten, sondern auch noch ihren Vater pflegen, der an Parkinson litt. Sie versucht sie alle mit ihrem starken Willen durchzubringen. Das erste Lebenszeichen von ihrem Mann gibt ihr Auftrieb. In ihrem Brief an Bruno, ihren Mann, erwähnt sie nichts von ihrem Kummer und ihren Sorgen.

 

Nach mehreren Monat erhält mein Großvater Ende 1946 endlich diese erste Post aus Deutschland. Am 7. November 1946 schreibt er ihr unter anderem: "Liebe Frau. Warum schreibst Du mir nicht öfter und mehr. Ich habe Sehnsucht nach Euch und würde mich über jedes geschriebene Wort freuen."

 

Sie möchte ihm gerne mehr schreiben, aber sie will ihn nicht unnötig beunruhigen. Von ihren Sorgen will sie ihm nicht berichten. Sie geht davon aus, dass es ihm noch schlechter geht als ihr.

 

Bruno lebt und aus seinen Zeilen schöpft sie die Kraft, diese trostlose Zeit zu überstehen, ihm geht es ebenso. Seit er in den Krieg mußte, trägt er ein Foto von seiner Frau und seiner Tochter, der kleinen Reinhilde bei sich. In seiner düsteren Baracke irgendwo im fernen Rußland, fragt er sich wie groß sie wohl mittlerweile ist, ob sie schon zur Schule geht? Er hat Angst, dass ihre Erinnerungen an ihn verblassen könnten. So schreibt er seiner Frau am 15. Dezember 1946: "Achte auf unsere Kinder und erzähle ihnen oft von mir! Damit sie mich nicht vergessen!"

 

Natürlich erzählt sie oft von ihm, so kann sie ihren eignen Mut zum Durchhalten stärken. Sie hat aber auch ihre schwachen Momente, wo ihr einfach die Nerven versagen und sie die Tränen vor den Kindern nicht verbergen kann. Die Kinder trösten sie dann: "Ach Mama, der Papa kommt bestimmt wieder!"

 

Während er auf der Karte vom 15. Dezember 1946 schreibt, dass es bereits sehr kalt ist, sie aber geschützt wären, gesteht er in der Karte vom 10. Februar 1947 doch, dass er etwas krank ist.

 

Viel zu lang dauert es bis er ihre Karten erhält. Und wenn sie schreibt, schreibt sie wenig, so ist er stets in Sorge um sie und die Kinder. Darum schreibt er am 4. Januar 1948: "Wie geht es Euch. Seid Ihr noch alle gesund. Ich bin sehr in Sorge um Euch. Ihr leidet wahrscheinlich Not und ich bin nicht bei Euch. Mir selbst geht es wohl besser als Dir und meinen Lieben. Wenn ich doch endlich bei Euch sein könnte."

 

In seinem vorletzten und längsten Brief aus dem Jahre 1948, vor seiner Heimkehr, schreibt er:

 

den 19.2.48   Liebe Frau! Ischen! Deine beiden Karten vom 01.12. + 27.12.47 habe ich - nach langer Zeit die erste Post - bei einigermaßener Gesundheit erhalten. Liebe Frau! Es sind nicht viele Worte die Du schreibst. Darfst Du nicht mehr schreiben? Erkundige Dich bitte mal danach und schreibe mir dann mal einen Brief. Meine Kameraden aus der engl. Zone bekommen doch auch Briefpost. Möchte doch gerne alles was Dich und alle Lieben betrifft wissen. Eure Lebensverhältnisse interessieren mich. Aus den Deutschen Zeitungen, die wir hier bekommen, sehe ich, dass es dem Westen Deutschlands nicht gut geht. Du und Ihr alle meine Lieben werdet nicht allzu rosig leben. Vielleicht habe ich hier mehr als Ihr. Der Russe tut für uns was er kann. Ärztliche Betreuung usw. Nur die Sehnsucht nach Hause zu unseren Lieben stillt er nicht. Eines steht allerdings fest, Weihnachten feiern auch wir zu Hause. Wir hoffen allerdings, dass es früher sein wird und wir helfen können ein einiges Deutschland aufzubauen. Denn nötig ist es. Ihr bekommt es doch nicht fertig. Liebes. Du schreibst, Du arbeitest. Bist Du darauf angewiesen den Lebensunterhalt für Dich und die Kinder zu verdienen. Was arbeitest Du? Ischen. Dich und die Kinder möchte ich jetzt mal sehen. Du könntest mir mal ein Bild von Euch schicken. Möglich ist es. Meine beiden Lieblinge müssen doch bald groß sein. Sprecht Ihr viel von mir? Um eines, mein Liebes möchte ich Dich bitten. Mach es wie ich, lasse den Kopf nicht hängen. Wir werden unser Leben unsere Zukunft die Zukunft Deutschlands wiederaufbauen. Das habe ich hier gelernt. Die kurze Zeit unserer Trennung werden wir überstehen. Der Winter ist bald vorbei und im Sommer läßt sich alles leichter ertragen. Nun meine Liebes wünsche ich Euch Lieben alles gute und mir ein baldiges Wiedersehen mit Euch allen. Herzliche Grüße an Euch alle auch an Irmgard    von Bruno

 

Die letzte Karte schreibt er am 3. Mai 1948: "Ich habe die Hoffnung, dass wir uns bald Wiedersehen. Frohe Pfingsten wünschend grüßt Euch alle Bruno. Haltet durch! Ich tu's auch."

 

Kurz danach kommt der Tag, an dem er heimkehrt. Er geht erst mal zu seinem Bruder, der ihm einen Anzug besorgt hat. Er will ordentlich aussehen. Und eine Frage drückt sein Herz. Er will von seinem Bruder wissen, ob seine Frau ihm treu geblieben ist. Zu viele schlimme Dinge hatte er gehört. Aber sein Bruder konnte ihn beruhigen, sie war ihm treu geblieben.

 

Meine Oma arbeitete mittlerweile in einer Metzgerei und erfährt dort, dass ihr Bruno bereits in Bochum ist. Überwältigt von diesem Glücksmoment fällt sie in Ohnmacht. So viele Stunden, Tage, Wochen, Monate und Jahre hatte sie auf ihn gewartet und jetzt war er wieder da. Viele, zu viele kehrten nicht zurück! Aber ihr Bruno - war wieder da!

 

Die kleine Reinhilde hat den Tag der Wiederkehr immer noch ganz genau vor Augen. Sie steht mit ihrem jüngeren Bruder auf der Straße und ein Mann mit einem Holzkoffer in der Hand kommt auf sie zu. Sie stupst ihren Bruder an und sagt: "Das ist unser Papa. Der Papa ist wieder da!"

 

Für viele Paare hinterließ der Krieg tiefe und schmerzhafte Wunden in ihrer Beziehung. So ging es auch meinen Großeltern.

 

Und dennoch kurz vor dem Tod meiner Oma war es ihr Wunsch, dass ich ihr Brunos Feldpost vorlas. Kurz danach verstarb sie.